Evanesca

"Dieses Kleid ist hässlich. Und zu dünn. Und unschicklich. Ich will meine Sachen zurück!"
Wieso war ich eigentlich so dumm, um tatsächlich keine anderen Waffen einzupacken? Aber andererseits... vermutlich wäre ich tot, wenn ich welche bei mir gehabt hätte.
Ich grinse böse. Soll ich ihm verraten, wem ich diese hübsche Narbe zu verdanken habe?
"Und ich will vor allem meinen Fächer wiederhaben!"
Ich atme tief durch. Die Zicke kann ich auch später weiterspielen.
"Wieso hätte es dich gefreut, wenn ich gelogen hätte?"
Ich weiß jetzt, dass er gelogen hat. Sonst hätte er nicht überprüfen müssen, ob ich die Wahrheit sage.

Im ersten Moment will ich meckern, wie ich denn bitte reden soll, wenn ich... und dann stelle ich fest, dass sich meine Zunge sehr wohl bewegen kann. Na dann.
"Ach das. Du stellst diese Frage immer so versteckt zwischen die anderen Fragen, dass ich sie irgendwie verpasst haben muss." Ich lächle trotz meiner Situation. In so einer Lage war ich lange nicht mehr... und ich habe mich lange nicht mehr so lebendig gefühlt.
"Eine Frau hat immer eine Waffe. Nämlich die Waffen einer Frau. Schönheit, Anmut, Charme und Unschuld. Andere Waffen habe ich nicht. Meine Armbrust hast ja du."
Ich denke mir: Und hoffentlich hast du dir an den silbernen Beschlägen die Hände verbrannt.

Ich schaue ihn an, als wäre er nicht ganz dicht. "Hörst du mir nicht zu? Ich antworte die ganze Zeit auf deine Fragen. Und wenn sie versuchen, mich auszuziehen, dann kenne ich kein Erbarmen."
Ich schlage einem Skelett, das mir zu nahe kommt, so stark mit dem Fächer auf die Finger, dass seine Fingerglieder bröseln. "Also was von all den Dingen, die du wissen willst, habe ich dir bitte nicht erzählt?"
Die Zelle ist eng. Das kann ein Vor- aber auch ein Nachteil sein. Ich nehme keine Rücksicht auf die halbtoten Menschen hier und ich ziehe dieses unfassbar hässliche Ding ganz gewiss nicht an.

"Ich rede doch die ganze Zeit, das hörst du doch. Ich verstehe nur nicht, was du wissen möchtest."
Er will, dass ich rede. Er ist nicht auf meine Gedanken mit meinem Verstand eingegangen. Er droht mir mit körperlicher Folter.
"Wozu willst du mich verletzen? Hol es dir aus meinen Gedanken."
Das ist ein Risiko, ich weiß. Aber ich muss es probieren.
Während ich auf seine Antwort warte, bücke ich mich nach dem Glas Wasser vor meiner Zelle und nippe daran. Ganz normales Wasser. Gut.

"Das habe ich doch schon gesagt. Ich ahnte, dass da ein Vampir am Werk ist. Und wozu eine Armbrust ist, weißt du hoffentlich." Ich lächle.
"Was Waffen angeht... Nun, definiere Waffen."
Ich bin eine lebende Waffe, ich habe meinen messerscharfen Verstand dabei. Aber ich glaube nicht, dass er das meint.
Unauffällig beobachte ich das Skelett, das die Opfer auswechselt.

"Also weißt du... das ist ja ekelhaft." Ich schüttle den Kopf. "Du kannst doch nicht eine Dame einfach deinen Untergebenen überlassen. Das ist kein guter Stil, fürchte ich."
Ich lächle charmant."
"Aber was wolltest du noch mal wissen?"

Ich seufze. "Du bist anstrengend. Als du dich noch wie ein Gentleman benommen und mir was angeboten hast, hast du mir besser gefallen..."
Ich fächle noch etwas, um mir Zeit zu verschaffen. "Du hast meine Armbrust. Du weißt, wer ich bin und was ich damit anrichten kann. Kannst du dir nicht denken, wieso ich bei dem Grab war?"

"Oh. Das ist allerdings ein bedauernswerter Zwischenfall. Und wieso dann einen alten, schon ein wenig verfallenen Sarg stehlen? Ich hätte mir einfach einen neuen gekauft."
Der Geist sieht genau aus, wie der Mann, der mich damals erstarren ließ und das Feuer gelegt hat! Ihm verdanke ich eine Narbe!
Allein beim Gedanken daran fängt die Narbe an, zu jucken. Ich fühle das unbändige Bedürfnis, mich zu kratzen oder wenigstens mit dem Kiefer zu zucken, aber ich bin jetzt eine Lady und darf mir keine Blöße geben. Nicht vor einem Vampir.
"Ein Angeber also?"
Ich ignoriere seine Frage und denke angestrengt an Pferde, die sich bei Mondschein auf einer Wiese tummeln.

"Und warum brauchtest du einen neuen Sarg?"
Ich fächere tapfer weiter.
"Eine richtige Lady hat immer einen Fächer dabei."

Ich seufze. "Das macht einige Dinge natürlich etwas komplizierter." Ich hole einen Fächer aus meinem Korsett und fächle mir damit etwas Luft zu. Keine gute Idee.
Es stinkt bestialisch.
Aber ich verziehe das Gesicht nicht.
"Lass mich raten, du schläfst im Sarg?"

"Das glaube ich nicht." Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
"An deinem Tatort also?"
Ha! Ich hatte Recht! Er hatte den Toten gestohlen.
"Gut zu wissen." Ich lächle.

Ich denke mir nur "Ernsthaft jetzt?"
Typisch überheblicher Mann und auch noch Vampir...
Ich bleibe also zwangsweise stehen und... versuche, ihn niederzustarren.
"Es ist vortrefflich und sehr erfrischend."

"Genau."

"Wenn du mich nur etwas fragen möchtest, hättest du da in einer angenehmeren Atmosphäre haben können." Ich blicke mich um und ziehe meinen Fuß zurück. Einer der Halbtoten hat danach gegriffen und ich habe keine Lust, mich von Fremden anfassen zu lassen.
Verwundert registriere ich, dass er Wein bei sich hat. Das heißt, dass ihm Alkohol nicht schaden kann. Oder ist der für seine "Gäste"?
Könnte ich ein Glas Wasser haben?
Ich kenne kein Gift, das er mir in einem Glas Wasser unterjubeln könnte.

"Blaubeersaft." Ich kann mich nicht zurückhalten und grinse wie eine Wahnsinnige. "Natürlich. Blaubeersaft."
Ein Vampir, der Fruchtsaft trank. Der sie verschleppte.
"Nein danke." Wer weiß, was er mir dazumischt, wenn ich den Saft annehme - und woher weiß ich überhaupt, dass er nicht gelogen hat? Ich muss ihn irgendwie zum Reden bringen.
"Wieso bin ich hier?"

In der Dämmerung erwache ich und schaufle mich unauffällig wieder aus dem Strohhaufen.
Das war kein appetitliches Versteck aber besser als gar keins.
Unauffällig überprüfe ich erneut meine Taschenuhr. Es ist noch so früh am Abend, dass ich im Strom der Reisenden in Richtung London untergehen werde. Das nutze ich, um mich auf den Weg in die Stadt zu machen.

Kaum dass ich mich wieder bewegen kann, strecke ich mich und mache ein paar Bewegungen, um meinen Körper wieder halbwegs geschmeidig zu machen. Er hat mir nur die Armbrust abgenommen. Das ist gut. Aber ich sollte meine Waffen erst begutachten, wenn ich genau weiß, dass er nicht zusieht.
Ich schaue mich um und stelle fest, dass ich unter den ganzen Leuten in der Zelle als Einzige bei wachem Verstand bin. Alle anderen wirken mehr tot als lebendig.
Als er dann mit einem Glas zurückkehrt, starre ich darauf, was das für eine Flüssigkeit sein soll. Sie ist schwarz wie die Nacht und färbt seine Lippen schwarz-violett. Was ist das? Blut ist das schon mal nicht, aber es sieht ekelhaft aus.
Das kommentiere ich nicht.
Ich verschränke nur die Arme.

Tower Hamlets Cemetery

Mein erster Gedanke ist "Nicht schon wieder!" und mein zweiter Gedanke ist "Das ist mein Ende". Der dritte Gedanke ist, dass ich den Vampir kenne, der mich gerade verschleppt. Es ist der junge Mann, den mein verstorbener Gemahl... gekauft hat.
Das ist absurd. Das ist so absurd, dass mein Hirn von diesem Gedanken ausgefüllt ist, während ich mich doch gegen die Lähmung und den unfreiwilligen Flug mit dem Fledermausexpress wehren müsste. Aber ich kann nicht. Mein ganzes Sein erstarrt.
Der Flug dauert lange, als ich beim Friedhof ankam, war es späte Mittagszeit und nun fängt es an, zu dämmern...

Ich bin gespannt!
So lange Vorbereitungen sind ja schon irgendwie cool und wir haben schon zu dritt spannende Abenteuer.

(Wie wird das erst, wenn hier mehr mitspielen?)

Ich mache eilig einige Schritte auf dem Mausoleumsdach, bis mich die Äste eines naheliegenden Baumes völlig verdecken.
Eine Allee aus riesigen, uralten Linden führt zur Vorderseite der Kirche und schneidet somit den Bereich, in den der Vampir geflüchtet ist.
Ich nutze die Bäume und deren mächtige Äste, um mich von Mausoleum zu Mausoleum vorzuarbeiten und den schattigen Bereich der Kirche in den Blick zu bekommen. Dabei hoffe ich, dass mich die mächtigen Äste und belaubten Zweige vor den Blicken des Vampirs zumindest ein wenig schützen können.
Als die Schattenseite in meinen Blickwinkel gelangt, bleibe ich kurz im Schatten stehen und lade meine Armbrust mit meinen besten Geschossen. Silbersplitter und ein Alkoholgemisch mit eingelegten Knoblauchzehen, das sich schnell selbst entzündet. Dazu habe ich ein bisschen Eisen hinzugemischt, das Funken schlagen wird.